Für mich als Straßensozialarbeiter und auch als Privatperson war die Pandemie ein Schock. Viele Fragen blieben anfänglich offen, weil Einrichtungen, die sonst die Obdachlosen versorgten, von einem Tag auf den anderen geschlossen blieben.
Ich habe gemerkt, dass die Obdachlosen Angst hatten, übersehen zu werden und daher sind sie viel aktiver, fordernder – auch zurecht – auf uns zugekommen. Dabei war es schwierig immer auf den nötigen Schutz zu achten. Meine Klient_innen sind eine extrem verletzliche Gruppe und so fürchtete ich weniger eine eigene Ansteckung durch die Obdachlosen, sondern vielmehr eine Ansteckung der Obdachlosen durch mich.
»Ich konnte meinen Beruf den jungen
Leuten, überwiegend Studierenden der
Sozialen Arbeit, näherbringen.«
Aber diese Wochen haben viel Solidarität der Bevölkerung gezeigt. Studierende haben sich gemeldet, wollten unterstützen und durften dies auch. Vier Tage nach Schließung aller Einrichtungen konnten wir bereits mit der Verteilung von Lunchpaketen beginnen. Die Ehrenamtlichen haben sich extrem aktiv eingebracht und auch bei der Organisation unterstützt. Das schöne dabei: Ich konnte meinen Beruf den jungen Leuten, überwiegend Studierenden der Sozialen Arbeit, näherbringen; für die Wohnungslosenhilfe werben.
Nach sechs wirklich anstrengenden Wochen, haben wie die Lunchpakete runterfahren können, da die Einrichtungen wieder Essen ausgegeben haben. Es war einfach eine intensive Zeit, körperlich aber auch mental. Selbst im Feierabend blieb ich ansprechbar. Ich habe mir viele Fragen gestellt: Ist es gut, dass wir weiterhin draußen sind und täglich so viele Kontakte haben? Missachte ich etwas? Hätte ich mehr Schutz bieten können? Hierfür gab es politisch keine Antwort oder Unterstützung. Ich habe die Antworten bisher selbst noch nicht gefunden. Zurzeit bin ich einfach froh, dass wir über die erste Welle hinweggekommen sind – ohne Ansteckungen – und mit der großartigen Hilfe von Ehrenamtlichen, die zeigen, dass es richtig ist, was wir getan haben. Allen Zweifeln zum Trotz.
Julien Thiele