Als sich die Nachrichten über die bedrohliche Ernsthaftigkeit der Pandemie zu verdichten begannen, war sofort klar: Oma und Opa, beide 89 Jahre alt, würden wir nicht mehr nahekommen dürfen. Das war eine bittere Einschränkung für Oma und Opa, aber besonders auch für den 12-jährigen Enkel. Rasch konnten wir eine Videotelefonie einrichten – die haben wir auch gern genutzt und tun es immer noch – aber dasselbe war es doch nicht. Aber dennoch hatten sich in der kurzen Zeit von Beginn der Einschränkungen bis Ostern bereits gewisse kleine Corona-Rituale etabliert: Wir trafen uns gelegentlich im Treppenhaus an der offenen Wohnungstür, Oma und Opa einen Schritt weit in ihrer Wohnung, wir weit im Treppenhaus stehend. Und zum Abschied warf Oma die traditionellen Bonbons, die es sonst immer beim Abschied in der Tür gab, aus dem Fenster im 1. Stock auf die Straße, wo wir unter dem Fenster parkten, und der Enkel konnte sie auffangen. So hatte sich zumindest rasch ein netter Abschied gefunden.
Aber was zu Ostern tun? Die natürlich jedes Jahr stattfindende Ostereiersuche musste nun ausfallen, das war klar. Dennoch aber sollte der Enkel seine Ostereier bekommen. Aber die aus dem Fenster im 1. Stock werfen? Wohl kaum. Das wäre nicht gut für die Eier gewesen, und auch nicht besonders liebevoll. Wir Eltern hatten uns damit abgefunden, dass das wohl ausfallen würde – nicht aber Oma und Opa!
»Die phantastische liebevolle Kreativität, mit der
Oma und Opa dem Virus die Stirn geboten und dem
Enkel sein Osterkörbchen gerettet haben.«
Wir kamen Ostern in der nun schon gewohnten Weise zum Osterbesuch ins Treppenhaus. Als wir wieder gingen, verabredeten Oma und Enkel wie üblich, sich gleich noch am beziehungsweise unter dem Fenster zu treffen. Dazu gab es noch ein paar kryptische Bemerkungen von Oma… das sei ja nun blöd mit den Ostereiern – denen dürfe ja nichts passieren… soweit auf die Straße zu fallen… das gehe ja nicht… niemand von uns wusste, was das bedeuten sollte, aber wir dachten, es wäre wohl ein Ausdruck des Bedauerns gewesen. Wir winkten noch einmal durch die Wohnungstür, drehten uns dann um und gingen durchs Treppenhaus nach draußen. Dann passierte relativ lange nichts.
Bis das Fenster aufging. Oma und Opa wie traditionell oben am Fenster. Noch eine Pause, dann sah man sie hantieren … und dann begannen sie, das vorbereitete, liebevoll dekorierte Osterkörbchen ganz langsam an einer langen Leine aus dem Fenster im 1. Stock zum Enkel auf der Straße hinunterzulassen!
Wir hatten überhaupt keine Ahnung gehabt! Die ganze Fahrt nach Hause gab es nur ein Thema: die phantastische Idee, das Osterkörbchen abzuseilen. Und neben all den Belastungen und Einschränkungen wird dieser Eindruck für uns für diese Zeit stehen: Die phantastische liebevolle Kreativität mit der Oma und Opa dem Virus die Stirn geboten und dem Enkel sein Osterkörbchen gerettet haben.
Stefan Köhler, Kiel