Corona kam bei mir erst sehr langsam ins Leben geschlichen. Ich freue mich in jedem Jahr sehr auf die Fastenzeit und Ostern. Demnach war ich noch damit beschäftigt, mir zu überlegen, auf was ich in diesem Jahr verzichten und was ich ausprobieren wollte. Aus dem „Andere Zeiten-Heft“ hatte ich die Idee aufgegriffen, jede Woche einer anderen Person zu schreiben. Einer Person, die mir wichtig ist. Die Liste war schon fertig – und dann kam Corona auch in meinem Alltag an.
Am 15. März 2020 ging ich noch zur Arbeit, rief aber vorsichtshalber meine Hausärztin an, die mir gleich sagte, ich solle mich sofort auf den Weg nach Hause machen, da ich vermutlich zu den Risikogruppen gehöre. Und mit meinem Laptop unterm Arm sagte ich „Tschüss“ und fuhr nach Hause ins Home-Office, das zwei Tage später für alle empfohlen wurde.
Gutes Nummer 1: Nach drei Tagen des Zusammenraufens mit meinem Mann, die wir jetzt beide von zu Hause aus arbeiten, hatten wir abgesprochen, dass eine geschlossene Tür bedeutet, dass wir nicht gestört werden wollen, weil wir arbeiten. Wir sprachen Zeiten ab, zu denen wir uns treffen wollten. Und seitdem klappt es super. Manchmal treffen wir uns zum Tee in der Küche und dann freuen wir uns. In Zeiten der Krise bewährt sich, ob man auch für lange Zeit auf kleinem Raum miteinander leben kann. Nach 15 Jahren Ehe kann ich sagen, diese Entscheidung, diesen wertvollen Menschen zu heiraten immer wieder genauso treffen zu wollen.
Gutes Nummer 2: Als ich den Brief an meinen Vater schrieb, den ich kurz zuvor noch im Altenheim besucht hatte, kullerten mir die Tränen herunter. Ich schickte ihm meinen Bronzeengel, damit er keine Angst haben muss, wenn ich nicht da bin. Als ich meine Mails durchlas kam die Mitteilung des Leiters des Altenheimes, dass er Skype-Treffen anbieten würde für die Angehörigen, die weiter entfernt wohnen. Sofort meldete ich mich. Seitdem skype ich alle zwei Wochen mit meinem Vater. Er findet es ganz toll und ich möchte es nicht mehr missen. Trotzdem freue ich mich, wenn ich ihn auch ganz real wiedersehen kann, was hoffentlich im August klappen wird. Ohne Körperkontakt – das ist schon schwierig.
Gutes Nummer 3: Der nächste Brief ging an meine Großmutter, mit der ich mich sehr zerstritten hatte, weil sie mir sehr weh getan hatte. Drei Jahre hatten wir uns nicht mehr gesprochen und auch nicht gesehen. Ich dachte bei mir, so eine alte Frau kannst du nicht mit Groll im Herzen von der Welt gehen lassen. Ich hatte schon vorher drei Anläufe unternommen, wieder mit ihr ins Reine zu kommen. Doch die Zeit war wohl noch nicht reif gewesen, es gab keine Antwort von ihr. Ich schrieb ihr, dass viel Schlechtes aber auch sehr viel Gutes in unserer Beziehung gewesen ist und dass nichts mehr zwischen uns stehen würde. Und ich bedankte mich für die guten Stunden. Am Wochenende sagte mein Mann, dass meine Großmutter schon die ganze Zeit versuche, mich zu erreichen. Ich rief zurück, eine Entschuldigung tat nicht mehr Not. Sie bedankte sich sehr für den Brief. Seitdem telefonieren wir wieder regelmäßig. Sie ist glücklich, ich bin es auch und wir kommunizieren jetzt auf Augenhöhe. Vergeben kann so schön sein.
»Was bleibt, ist die Dankbarkeit, in diesem Land zu leben und ich hoffe,
dass diese Demut noch lange anhalten wird und alles, was wir jetzt an
Gutem gelernt haben – das Achten auf den Anderen – anhalten wird.«
Gutes Nummer 4: Am Wochenende gehen mein Mann und ich gemeinsam in den virtuellen Gottesdiensten. Mal in den evangelischen, da mein Mann evangelisch ist, und mal in den katholischen. Das macht viel Spaß und hinterher reden wir darüber. Wir können uns besser auf die Predigt konzentrieren und freuen uns über das große Angebot über die Mediathek oder das Internet. Klar fehlt mir der sonntägliche Gottesdienst in der Gemeinde. Doch jetzt muss ich mich entscheiden, welchem Risiko ich mich und damit auch meinen Kollegen (die ich seit einigen Tagen wieder öfter sehe), Besucher der Einrichtung in der ich arbeite, meinen Mann und dem Verkäufer in meinem kleinen Bioladen aussetzen will. Ich kann nicht alles verhindern, doch sehr risikofreudig bin ich gerade nicht. Das ist anders, wenn es nur um mich geht, doch hier geht es nun mal nicht nur um mich. Ich würde mir wünschen, dass es in der Sommerzeit kleine Gottesdienste unter freien Himmel gäbe!
Gutes Nummer 5: Während des Lockdowns haben wir unseren Aufstehrhythmus beibehalten und sind an den Wochenenden früh aufgestanden, um noch vor dem großen Ansturm an Ausflüglern, die ebenfalls im engen Hamburg wohnen, Fahrrad zu fahren oder spazieren zu gehen. Und so haben wir Auen- und Moorlandschaften in Hamburg kennengelernt, die wir sonst nie besucht hätten. Das war toll und ein Bild hängt jetzt in „Postergröße“ im Flur, sodass wir denken, wir seien im Wald.
Gutes Nummer 6: Im Lockdown haben wir mit den Nachbarn geklatscht und gesungen – aus dem Fenster heraus. Das war eine tolle Atmosphäre. Es war wichtig sich bei der ganzen Angst gegenseitig Mut zu machen und gleichzeitig Danke zu sagen an alle, die für uns weiter an der Kasse, in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, bei der Müllabfuhr und der Post arbeiteten. Danke auch an unsere Politiker, die ständig neue Hiobsbotschaften verkündigen mussten.
Gutes Nummer 7: Mir ist jetzt viel klarer geworden, wie wenig es bedarf, um glücklich zu sein. Genug zu essen und zu trinken, ein Dach über den Kopf, etwas anzuziehen, eine wertvolle Beziehung und meinen Glauben an Gott. Mein Mann und ich haben viel darüber gesprochen. Denn was uns vorher noch so wichtig erschien (der Urlaub in der Sonne) war auf einmal so unwichtig. Die Shopping-Touren, obwohl der Kleiderschrank längst voll ist – es muss nicht sein. Die vielen Termine zu koordinieren, die einfach zu viel sind und bei denen wir uns sonst gefreut haben, wenn mal ein Termin ausfiel.
Was bleibt, ist die Dankbarkeit, in diesem Land zu leben und ich hoffe, dass diese Demut noch lange anhalten wird und alles, was wir jetzt an Gutem gelernt haben – das Achten auf den Anderen – anhalten wird. Und zwar global. Dass unsere Welt erneut eine Chance erhält, die Klimakatastrophe wirklich abzuwenden und Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Ich will nicht zurück in unsere alten Konsumgewohnheiten. Ich will ein gerechteres Leben, auch wenn ich dafür etwas kürzer treten muss.
Dagmar L., Hamburg